Niihau - The forbidden island

Niihau - The forbidden island

Robinsons Insel

Eine schottischstämmige Familie ist Besitzerin der Hawaii-Insel Niihau. Außer 150 Hawaiianern darf niemand auf die Insel. Die Eigentümer wollen sie hermetisch vor äußeren Einflüssen bewahren

Von Dimitri Ladischensky und Jan Windszus

Die Insel, über die ich fahre, muss ich nicht beschreiben, denn sie ist jedem von uns schon unzählige Male begegnet. Immer wenn in Filmen eine Paradiesinsel mit gezackten Bergen und grünen, von schäumenden Flüssen durchzogenen Schluchten auftaucht, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach die Hawaii-Insel Kauai sein. Wer „Avatar“, „Jurassic Park“, „Herr der Fliegen“ gesehen hat, hat Kauai gesehen. Aber die Insel, auf die ich will, die Nachbarinsel, die vor mir aus dem Meer in den Morgendunst ragt, die kennt keiner, die hat noch niemand aus der Nähe gesehen. Niihau, die „verbotene Insel“. Von Niihau gibt es nur ein paar Helikopteraufnahmen. Eine wüstenähnliche Insel, von schäumender Brandung umgeben. Wer mit Google Earth heranzoomt, erkennt ein paar Häuser, ansonsten viel Sand. Der Rest ist Romantik. „150 Einwohner leben hier seit 1915 auf eigenen Wunsch fast wie Robinson Crusoe“, wähnt eine Reiseagentur. „Traditionelle hawaiianische Lebensweise steht anstelle von Fortschritt und Technologie. Ohne Stromnetz, Telefon, Auto, Geld oder ärztliche Versorgung wird auf Niihau der Alltag gemeistert. Als Zahlungsmittel dienen Muscheln.“ Eine Zeitkapsel. Ein lebendes Museum. Die Insel Niihau gehört den Brüdern Keith und Bruce Robinson, 72 und 71 Jahre alt. Nur auf Einladung der beiden darf man sie betreten, und die beiden laden so gut wie keinen ein.

Kauai und Niihau sind Zwillinge, die unterschiedlicher nicht sein können. Die eine grün, die andere trocken, die eine Touristenmagnet, die andere unberührt. Auf der einen bin ich, auf die andere will ich. Angefangen hat alles mit einer dünnen, brüchigen Greisenstimme am Telefon. Ich hatte die Nummer eines Unternehmens namens Niihau Helicopters gewählt. „Sie wissen, dass ich rechtsextreme Ansichten vertrete?“, sagte dann eines Morgens Keith Robinson. Ob das in Ordnung sei, steckte als Frage dahinter. Nicht, dass ich enttäuscht sei, wenn ich den langen Weg um die Welt anträte. Natürlich ist das in Ordnung. Extreme Insel, extremer Charakter, extreme Ansichten. Er erzählte mir, dass die Einwohner von Niihau noch mit Messern jagen und mit Speeren auf Fischfang gehen. Ich fragte ihn, ob ich ihm etwas aus Deutschland mitbringen soll. Irgendwelche landwirtschaftlichen Geräte? Ich hatte gelesen, dass er ein Pflanzennarr ist.

Einige Wochen später holt er uns vom Flughafen von Kauai ab, mich und den Fotografen Jan Windszus. Auf die Frage in meiner letzten Mail, ob ich nach Niihau könne, hat er nicht geantwortet. Immerhin hat er ein klares Nein vermieden. Und ich habe ein halbes Ja herausgehört. Unsere Reise nach Niihau beginnt auf Kauai, und ich hatte mir nichts vorgemacht: Obwohl es nur 17 Meilen nach Niihau sind, liegt ein langer Weg vor uns. Nicht drängeln, mich gut mit ihm stellen und ihn dazu bringen, dass er mich nach Niihau lässt. Das ist mein Plan für die nächsten zehn Tage. Tag eins. Keith Robinson fährt morgens um sieben mit seinem Jeep am Cottage vor. Keith hat uns aussichtsreich untergebracht. Ein altes Plantagenhaus am Strand von Waimea. Mit Blick auf Niihau. Im Dunst ragt es als Silhouette auf, steil, unbezwingbar, nebelverhangen: eine Felsenburg mit einer Mauer aus Klippen. Keine Spur menschlichen Lebens. Von hier wirkt Niihau wie eine B-Movie-Kulisse. Zu exakt trifft sie das Klischee einer geheimnisvollen verbotenen Insel.

Keith fährt vor, lautes Autotürknallen. Schwere Schritte auf der Treppe, Stampfen, Hüsteln. Wir liegen noch in unseren Betten, wach, Jetlag. Robinson öffnet die Tür, tritt ein und nimmt Platz. Ein Inselwächter kennt keine Türen. Jedenfalls keine, die für ihn verschlossen sind. Robinson lebt nicht auf Niihau. Er wohnt auf Kauai, in einem kleinen Ort namens Makaweli mit Supermarkt, Post und Helikoptervermietung. Obwohl seine Familie zu den zehn wichtigsten hawaiianischen Großgrundbesitzern gehört, trägt er Motorradstiefel, Arbeitshemd, verschlissene Jeans und fährt einen zerbeulten Pick-up. Sein Mund ist zusammengekniffen, sein Gewehr liegt auf dem Rücksitz. Er unterhält nicht nur einen Menschenzoo auf Niihau mit den letzten hawaiianischen Ureinwohnern. Er hat auch ein Naturschutzgebiet für die gefährdete hawaiianische Flora geschaffen, hier auf Kauai. Und damit möchte er anfangen. Er hat sich einen Plan überlegt, für jeden einzelnen unserer zehn Tage. Heute will er mit seinem Lieblingsplatz anfangen, seinem Pflanzenreservat. „Und dann sehen wir weiter.“ „Weitersehen“ klingt gut. Nicht drängeln. Ihn kommen lassen. Wenn er seine Pflanzen zeigen will, warum nicht? Draußen in seinem Jeep wartet ein Mann. „Mike ist Ermittler“, stellt Keith vor. Er mache für die Staatsanwaltschaft Untersuchungen, um herauszufinden, ob jemand lügt oder nicht. Ohne Umschweife erklärt Keith, dass er jemanden braucht, der für ihn einschätzt, ob er uns trauen kann. Er kennt keine sozialen Gepflogenheiten. Deshalb fällt er auch verbal mit der Tür in unser Haus. „Seid ihr eigentlich schwul?“ Er hätte da einen blinden Fleck in seiner Wahrnehmung, deshalb die direkte Frage. Nichts gegen Schwule, aber bitte nicht auf seiner Insel.

Wir biegen vom Highway ab, fahren einen Weg durch Gräser und Gestrüpp und halten vor einem verfallenen, zugewachsenen Schuppen. Das Anwesen der Robinsons. Er hat sich Mühe gegeben, das Grundstück halbwegs herzurichten, dass es präsentabel ist. Er hat einen ganzen Tag vor unserer Abfahrt Unkraut vor seinem Haus vernichtet, damit es überhaupt erkennbar ist. Das Gebäude trägt eine eigentümliche Panade aus Sand und Holzschindeln auf dem Dach, die Fenster sind mit Fliegengittern behängt. Wer hineinschaut, bekommt Chaos zu sehen, verschobene Möbel, verstreute Lebensmittelverpackungen. Keine Truhen, keine Kisten, kein verstaubtes Eigentum aus längst vergangenen Tagen.

Alle, die je in dem Herrenhaus gelebt haben, sind tot oder ausgezogen; nur Keith hat sein Kinderzimmer nie verlassen. Seine alte Badewanne rostet im Garten. Da ist die Ecke, in der er gespielt hat. Da ist der Schuppen, in dem seine Mutter ihn unterrichtet hat. Keith hat nur mit seinem Bruder gespielt. Seine Mutter war dabei, als er in Kalifornien auf die Highschool ging, und seine Mutter war dabei, als er in Camp David mit seinem Bruder Landwirtschaft studierte. Keith hat nie geheiratet, nie mit einer Frau geschlafen, „nicht mal eine geküsst“, sagt er stolz. Und während er von seiner verinselten Kindheit erzählt, ragt Niihau vor uns im Morgennebel auf wie vor 1000 Jahren, unverändert die schroffen Felsen, die 100 Meter über dem Meer verlaufen. Keith kann endlos von seiner Kindheit schwärmen. Zäune reparieren, Bienenkörbe schleppen, Stunden in der heißen Sonne arbeiten, kein Schluck Wasser, nie wird er den Anschiss vergessen, als der Vater ihn ertappte, wie er heimlich Wasser trank. Was für ein faules, wertloses Kind er erzogen habe!

Plötzlich, übergangslos gerät Keith in Rage. Und überhaupt: Der „nationale Sozialist Obama“! Die Wohlfahrtsmentalität! Die Verweichlichung der Amerikaner! Die Steuern, die den faulen Elementen helfen! Und dann die Frau, die neben seinem Kinderzimmer ihr Office bezogen hat! Er meint Leanna, sie ist Niihauanerin und die „neue“ Frau von Bruce. Bruce entscheidet nichts ohne sie. Keith will darüber nicht reden. Nicht jetzt. Irgendwo dahinten steht ein Auto, das dem Bruder gehören soll. Seine Ranch liegt oberhalb von hier. Darin soll ein Funkgerät sein, damit kommunizieren sie mit der Insel. Sie haben ihren Helikopter, mit dem sie ab und zu hinüberfliegen. Und sie haben ihre Aufpasser drüben auf der Insel, die Hausmeister. Er würde uns ja gerne ins Haus lassen, aber er ist zu beschäftigt, um aufzuräumen. Er steht vor Morgengrauen auf, prüft seine Investments auf dem Aktienticker, dann geht er in den Busch. Oder fliegt nach Niihau. Während sein Körper unter den Erschütterungen seiner Schritte erzittert, bleibt das Gesicht felsenhart, der Mund gepresst. „Mein Bruder und ich fahren Trucks, steuern Bulldozer und hantieren mit Motorsägen. Wir können mit Waldbränden umgehen, Hurrikans, Flutwellen und Landrutschungen. Wir haben mit Saint-Tropez, Bikinifrauen und Mai Tais nichts zu tun.“

Und so hat er den roten Weg, der nun hoch verläuft, Hindernisse niederwalzend oder sie sprengend, durch den Dschungel geschlagen. Hat im Kampf mit Motorsägen, Bulldozern und Agent Orange den „Verdrängungswuchs der invasiven Pflanzen“ kleingekriegt. Und einheimische Pflanzen in seinem Reservat gepäppelt. Keith hat ein Buch über sich geschrieben, das er uns noch in die Redaktion geschickt hat, über seine übermenschlichen Fähigkeiten. Dass er der beste Scharfschütze in der Army war, dass er den höchsten IQ hat und auch mit gebrochener Schulter marschieren kann usw. Er ist in einer Welt aufgewachsen, in der das Recht des Stärkeren gilt. Wer am lautesten brüllt, überlebt. Darwinistisch betrachtet, ist Hawaii schwach, weil es sich über Jahrtausende in Isolation entwickelt hat, sagt Keith. Nicht einheimische Pflanzen, die nun eingeführt werden, gelangen besser an Nährstoffe. Sie sind durchsetzungsfähiger. Das gilt für Keith auch im menschlichen und tierischen Bereich. Eingeschleppte Hühner bevölkern Kauai, immigrierte Schweine fressen einheimische Pflanzen, und Ausländer verdrängen Hawaiianer. Auf Niihau hat er die „Pest der Zivilisation“ ausgesperrt. Hier wird noch reines Hawaiianisch gesprochen, werden Muschelketten geknüpft, herrscht kein Neid und lassen sich die Menschen nicht scheiden.

Im Rückspiegel erinnert eine Insel daran, dass ihr ferner Anblick nicht alles ist. Utopisten erblicken hier ein Paradies. Und Reporter die bessere Geschichte. Deshalb: zuhören. Zuhören, dass die Robinsons einem Geschlecht von Großgrundbesitzern angehören, das ein Viertel von Kauai besitzt, 360 Quadratkilometer. Dass die Robinsons Niihau von Geld und anderen Drogen freihalten. Zuhören, wie Keith über Gott und den freien Waffenbesitz doziert. „Unzucht und Sodomie sind heute ‚in‘, die Zehn Gebote ‚out‘.“ – „Nicht die Waffen haben Bill Clinton zum Oralsex gezwungen.“ – „Die Juden sind selbst schuld am Holocaust, weil sie geizig sind und Jesus gekreuzigt haben.“ Zuhören und sich seinen Teil denken. Die Sprüche sollen hart sein, hart wie sein Bauarbeiterhelm. „Manche Leute sagen, ich bin mit ihm auf die Welt gekommen.“ Er kümmert sich um seine Außenwirkung; er ist nicht uneitel. Der Helm ist hart, der Helm ist wiedererkennbar. Seine Sprüche allerdings machen ihn zu einem verwechselbaren Antisemiten.

Keith’ Vorfahren sind eingewanderte Radikalprotestanten aus Schottland, die vor 160 Jahren Niihau gekauft haben, weil sie dachten, die Insel sei grün und ideal für Rinderzucht. Das war sie aber nur ausnahmsweise, weil ungewöhnlich starke Regenfälle sie hatten ergrünen lassen. Als die Robinsons den Irrtum bemerkten, kauften sie Land auf Kauai hinzu, wo sie auch leben wollten. Dennoch bauten sie auf Niihau eine Farm und missionierten die Ureinwohner. Sie verboten Alkohol und Zigaretten,  führten Kirchgang und Schulpflicht ein. Niihau durfte so hawaiianisch bleiben, wie es protestantisch werden konnte. Freie Liebe und Vielgötterei waren verboten, Reiten und Surfen erlaubt. Sie waren die Lehnsherren und die Niihauaner ihre Leibeigenen. Sie selbst nannten sich „Beschützer“. „Verletzlich“, wie die Niihauaner waren, „unfähig, den Anforderungen eines intelligenten und zivilisierten Landes gerecht zu werden“, schlossen die Robinsons 1915 die Insel. Ihr Argument: Hawaiis Kultur intakt halten.

Der hawaiianische Senat monierte, dass die Frondienste, die sie auf ihrer Ranch abverlangten, nichts mit Chancengleichheit und Freiheit zu tun hätten. Niihaus Schule würde nur Teppichknüpfen und Tischlern beibringen, die Niihauaner dumm halten und in Abhängigkeit von den Robinsons. Und so stellte Hawaiis Gouverneur Burns in den 1960er Jahren einen Antrag auf staatliche Enteignung. Doch die Ölkrise 1973 rettete die Robinsons. Amerika hatte andere Probleme, als sich um eine Insel zu kümmern. Die Konfiszierung blieb ein Antrag, und Burns starb an Krebs. „Die Strafe Gottes“, erklärt Keith.

Wir folgen dem Weg, hinauf durch den Waimea Canyon, und weiter gehen die Lektionen in gut und böse. Den Jeep, den hat er von der Straße geholt. Niemand hat sich um ihn gekümmert, bis er sich seiner angenommen und den Rost abgeschliffen hat. Alt ist immer gut. Bar abheben ist gut, Kreditkarten sind schlecht, Beatles sind schlecht, Beethoven ist gut. Die Steine, die auf seinem Armaturenbrett liegen, sind das Pendant zu der Tüte mit Körnern auf dem Beifahrersitz. Sieht er ein einheimisches Huhn, wirft er Körner aus dem fahrenden Auto. Kommt ein eingewandertes, schmeißt er Steine. „Bloody bastards!“, schäumt er. Als ihm die Steine ausgehen, drängt er ein flüchtendes Huhn in eine Sackgasse, um es unter seine Reifen zu bekommen. Ob die Robinsons nicht auch eingewandert sind? „Sicher“, antwortet er ruhig. „Wie auch die Hawaiianer eingewandert sind. Um 500 nach Christus aus Polynesien.“ Mike hält seine Flinte aus dem Fenster. Vor einer Woche hat er ein eingewandertes Schwein gesehen, 400 Meter entfernt und bumm. „Die Eier“ hat er auf einer Lichtung liegen lassen, damit andere Schweine kommen und sich die Fressstelle merken, aber kein Schwein lässt sich heute blicken. „Was ist dir lieber: ein totes Schwein oder keins? Fängst du bei einem toten Schwein zu weinen an?“ Ich bewerbe mich für eine Eintrittskarte nach Niihau, und wenn Keith mich dort hinlässt, dann nur, wenn ich so abstinent, verheiratet, gottesfürchtig und Republikaner- freundlich wie die Ureinwohner dort bin. Mike, der neben mir sitzt, stellt nur selten Fragen. Meist macht er eine Bemerkung wie „Frauen runter von der Karriereleiter und ran an den Herd“ und schaut mich dann fragend an. Und bringt mich in die Klemme: hier meine Selbstverleugnung, dort Niihau. Ich verlege mich aufs asiatische Nicken, von dem man nicht weiß, was es sein soll, ja oder nein. Einmal sagt er, dass er Vegetarier seltsam findet, und schaut zu Keith, der es für ihn aussprechen soll. „Du bist dünn. Vegetarier?“ Wie jemandem antworten, der sich mit einem Handsprühgerät über Pflanzen beugt und zu ihnen wie mit Kindern spricht?

Keith macht weiter mit seiner Gartenschau. Er hat das Land gerodet. Er hat Setzlinge in Plastikbechern gepflanzt. Er hat einen elektrischen Zaun installiert, um die Schweine fernzuhalten. Ein Journalist hat es in den 1950er Jahren nach Niihau geschafft. Er hat mit einer Propellermaschine eine Bruchlandung hingelegt, um nicht wieder weggeschickt zu werden. Die Insel, die während unserer Autofahrt ab und zu auftaucht, nehme ich dankbar als Stichwort der Natur, um seinen Redefluss dorthin zu lenken. Er spricht von den Niihauanern wie von Pflanzen. Er nennt sie „verletzlich“. Sie könnten in freier Wildbahn nicht überleben. Er schützt sie. Nur er kann es. Für Niihau hat er eine bessere Abschreckung als Elektrozäune. Er hat die Niihauaner mit iPads bewaffnet. Damit filmen sie alle illegalen Grenzübertritte, und die Robinsons spielen die Clips dem Richter von Kauai zu.

Vor meinem geistigen Auge breitet sich eine museale Insel aus, die moderne Züge trägt. Es gibt Strom aus Solarzellen. Warum sollten die Niihauaner dann in der freien Wildbahn nicht überleben können? Vielleicht sind sie uns voraus? Keith erzählt weiter. Er und Bruce sind Arbeitgeber, Hauseigentümer, Ordnungshüter – sie regeln die Innenwelt auf Niihau. Sie sind Postadresse, Telefonverbindung, Fährmann und Pilot – sie sind der Flaschenhals zur Außenwelt. Die Niihauaner haben kein Telefon – anrufen kann man sie nur über die Robinsons. Keine Adresse – Postkarte an die Robinsons. Ob sie krank sind und mit dem Helikopter ausgeflogen werden – die Robinsons entscheiden es. Bruce und Keith entscheiden auch in Ehefragen. Kein ungeregelter Kontakt zur Außenwelt! Das würde die Inselkultur erodieren.

Bevormundung. Das wird den Robinsons vorgeworfen. Und Keith erwidert: Wir bevormunden nicht, wir schützen. Keine Touristen. Keine Autos. Keine Straßen. Keine Geschäfte. Nur 21 Häuser, eine Kirche und eine Schule, in der auf Hawaiianisch unterrichtet wird. Die 150 Niihauaner haben Fisch und Fleisch gratis, weil sie nach Herzenslust jagen und angeln dürfen. Haus, Strom und Wasser bekommen sie von den Robinsons. Waschmittel, Jeans und Konserven kaufen sie auf Kauai; die Barkasse der Robinsons fährt einmal im Monat. Sie haben alle einen Job, neun Dollar die Stunde. Sie leben nicht hinter einer „Berliner Mauer“ und hinter dem Mond auch nicht. Die Cowboys von Niihau arbeiten auch auf der Robinson-Ranch auf Kauai. Außerdem gibt es alte und kranke Niihauaner, die zum Arzt müssen. Oder Schulkinder, die drüben eine weiterführende Schule besuchen. Mehr kann Keith über die Insel nicht sagen. Er ist nur stiller Teilhaber. Sein Bruder sei „der Mann der Insel“, er managt die Ranch auf Niihau. Genau genommen hätten alle beide keine Ahnung, denn sie würden ihre Nasen nicht in das Privatleben der Niihauaner stecken.

Beiläufig erwähne ich, dass ich mir Niihau gerne anschauen würde, mit ihm zusammen, denn die Insel gehört ja zu ihm. Er nickt sehr asiatisch. Er erzählt mir, dass die Ranch auf Niihau pleite wäre, wenn sie das Militär nicht hätten. Die Robinsons bekommen Geld dafür, dass sie auf Niihau Truppenübungen erlauben und die Niihauaner als lebende Zielscheiben vermieten. Während wir im Kriechtempo vorwärts kommen, huschen Helikopterschatten über den Boden. Kaum eine Ecke auf Kauai, in der man von Helikopterlärm ungestört bleibt. Steven Spielberg hat auf den Grundstücken der Robinsons „Jurassic Park“ gedreht. Touren mit Hubschraubern, Jeeps und Geländewagen werden angeboten: „Kauai durch die Augen Hollywoods“. „Jurassic Park“, ein Park, in dem die Urzeit lebendig ist. „Im Film entgleitet die Kontrolle …“, bemerke ich. Gemeint ist: die iPads, die Solarzellen ? Die Kriegsspiele? Hat er die Insel noch im Griff ? Er sagt, die Niihauaner sind sehr hawaiianisch in ihren Herzen geblieben, die Sprache, die Gesänge, das freundliche Wesen. Und er sagt: „Solange sie nicht rauchen und keinen vorehelichen Sex haben. Woran sich meine Verwandten leider nicht halten.“

Wann immer ich die Rede auf Niihau bringe, schwupp, schlägt er den Bogen zurück zu seinen Pflanzen oder seiner Familie. Und die ist ihm nicht christlich genug. Sie hat hier gesündigt, da was verbrochen, hier vier Alkoholiker, da drei Scheidungen, weshalb er mit seinen Verwandten nichts mehr zu schaffen haben möchte. Nur sein Bruder, sein geliebter Bruder, an ihm hängt er. Aber auch zwischen den beiden gab es einen Bruch. Worüber er aber nicht sprechen will. Genug gesprochen, um den Teufel erscheinen zu lassen. Keith sieht das Auto auf sich zukommen, verringert die Geschwindigkeit aber nicht. Einen Moment sieht es so aus, als würden sich beide Fahrzeuge duellieren, dann tut sich eine Lücke in der Böschung auf, die keinen als Verlierer oder als Gewinner aussehen lässt. „Deutsches Magazin!“, ruft Keith im Vorbeifahren, und mit einem Nicken quittiert Bruce die Information. Dann kommt ein zweiter Jeep, James, Bruce’ Sohn aus erster Ehe. Mike lässt seinen Gewehrlauf aus dem Fenster ragen, James lächelt nervös, als er unser Auto passiert. Er muss den Kopf einziehen, um nicht in die Schusslinie zu geraten.

Keith und Mike grinsen wie zwei Footballspieler einer Highschool, die dem Computernerd aus der Nachbarklasse einen Streich gespielt haben. „Die Kinder von Bruce haben sich nie für meine Pflanzen interessiert und auch nicht für die Zehn Gebote. Sie führen das Geschlecht nur genetisch, nicht moralisch fort. Das sind keine echten Robinsons.“ Plötzlich stoppt er den Wagen, nimmt die Motorsäge und bringt sich in Stellung. „Fotografiert es! Alles! Die ganze Böschung!“ Er guckt nach oben, nimmt den Zeigefinger, um sich die Fallrichtung zu vergegenwärtigen, holt Luft und legt an. Das Gesicht verhärtet unter dem Druck, den er auf den Stamm legt, immer wütender frisst sich die Säge hinein, immer mehr schiebt er seine 200 Pfund in die Schneide, dann kracht der Baum ins Gebüsch, Zweige prasseln neben Keith zu Boden. Erst sieht es so aus, als habe er die einzige Stelle berechnet, die nichts abkriegen würde, bis ein Ast auf seinen Helm kracht. Er schüttelt seinen Kopf, erschrocken, auch über seinen Fehler. Er sei mit seinem Bruder nicht immer einverstanden, schimpft er. Sie hätten unterschiedliche Ansichten, wie die Insel zu führen ist. Bruce pflege „einen falschen Umgang mit den Niihauanern“. Darüber reden will er nicht.

Als 30 Meter rasierte Schonung vor uns liegen, ergeht wieder sein Befehl: „Los, fotografiert es!“ Wir ahnen Apokalyptisches. Einmal wollten Beamte einige seiner seltenen Pflanzen konfiszieren, weil er sie privat züchtete, was er laut irgendeiner Vorschrift nicht durfte. „Und wie über Nacht sind die letzten Exemplare der Caesalpinia auf mysteriöse Weise verdorrt.“ Das erzählte er mit einem Kichern. Aber diesmal hat er keine Pflanzenart ausgelöscht. „Leute, ihr sollt die Fotos nebeneinander in eurem Magazin drucken, vorher–nachher, kapiert?“ Er wollte uns nur zeigen, wie stark er ist. Mit 72.

Lange nach dieser Autofahrt, als es nichts mehr zu verlieren gibt, höre ich mich im Dorf um, was denkt ihr von Keith, was denkt ihr von Niihau, und ich höre nur Loblieder. Die Pflanzen, die Menschen, Keith bewahrt das. Und ich höre nur Verständnis. Auch Chrysler hat seine Zäune, auch Walmart seine Firmenphilosophie, auch Apple seine Verhaltensregeln. Warum nicht auch Niihau? Die Robinsons haben eine Kirche gestiftet und ein Krankenhaus finanziert. Sie lassen die Mitarbeiter ihrer pleitegegangenen Zuckerrohrplantage auf dem ehemaligen Werksgelände leben. Solche Gutsherren hat man gerne. Den einzigen kritischen Satz finde ich im Internet: Warum greift der Staat nicht ein, konfisziert Niihau und verteilt es unter den Niihauanern?, fragt ein Mann aus der hawaiianischen Unabhängigkeitsbewegung. Tag eins wird ebenso enden wie Tag zwei, Tag drei ebenso wie Tag fünf, und jeden Tag werden wir mit Keith in die Berge fahren, jeden Tag werden wir helfen, Pflanzen zu schneiden und Pflanzen zu düngen. Wir werden Niihauaner treffen, die so sehr auf Linie sind, dass wir ihnen begegnen dürfen, ohne dass sich der Inselherr hintergangen fühlt. Wir werden von Niihauanern hören, die heimlich rauchen, die sich auf Kauai betrinken und nüchtern nach Niihau zurückkehren, die nach außen hin Scheinehen konservieren, die für Bruce und Keith heile Welt spielen wie in der „Truman Show“. Aber wir werden Niihau nie näher kommen als auf dieser Autofahrt. Niihau ist eine Insel, auf der alles seinen Namen hat, jeder Strand, jeder Stein, jede Klippe. Es gibt mehr Namen als Bäume auf Niihau, mehr Bezeichnungen als Wasserlöcher. Niihau lebt nur durch seine Benennungen. Niihau ist eine Idee, eine Vorstellung.

Keith und ich haben zwei sehr unterschiedliche davon gehabt: Seine Hawaiianer sollten Asketen sein, Protestanten, die besseren Robinsons. Meine Hawaiianer sollten romantisch über dem Lagerfeuer kochen. Wir beide sind enttäuscht worden. Seine Hawaiianer haben vorehelichen Sex, meine haben iPads und leben mehr wie Robinson, weniger wie Crusoe. Die ideale Insel liegt immer dort, wo ein Phantast ist, der sie erfindet – in Keith’ Kopf und in meinem – oder ein Gärtner sie realisiert: das Pflanzenniihau auf Kauai, wohin wir jetzt fahren. Dort tunken die Gipfel in die Wolken. Und es wird grün, viel grüner als auf Niihau. Das Paradies. Der Garten, auf den wir zusteuern, ist die bessere Insel. Pflanzen sind die besseren Hawaiianer. Sie rauchen nicht heimlich und surfen nicht im Internet. Sie wachsen nur nach dem Licht. Und leben vom Wasser, das Keith hingebungsvoll auf die Setzlinge träufelt.

Niihau ist tot! Tot, weil sein Bruder es kaputt gemacht hat. Tot, weil er sich hat scheiden lassen. Tot, weil er sein niihauanisches Kindermädchen geheiratet hat. Der Sklavenhändler hat die Sklavin geheiratet, der Herr die Dienerin. Die Zauberinsel ist entzaubert – schon seit 23 Jahren. Das hätte er uns im Auto sagen können, aber erst in einem Brief, den er nach Deutschland mitgibt, wird sich der Furor entladen. Zehn Tage führt er uns Niihau vor die Nase, zwischen Bananenstauden und Elefantenbäumen, am Ende einer Schlucht oder hinter einer Bergkuppe – glitzernd im Meer, gischtumsprüht und im Gegenlicht wie illuminiert: die geheimnisvolle, die verführerische, die Nebelinsel. Zehn Tage muss Niihau für uns glänzen, zehn Tage muss sie als vage Hoffnung für mich bestehen, dann erst, als ich alles über ihn und seine Pflanzen weiß und mir nichts anderes übrig bleibt, als darüber auch zu schreiben, da erst lässt er im Brief Niihau ganz offiziell untergehen. „Ihr habt zwar nicht Niihau bekommen, aber eigentlich auch nichts verpasst. Dafür habt ihr meinen Garten gesehen. Als allererste Journalisten.“ Keith ist nun ganz still – als habe er erst jetzt bemerkt, dass der Weg vor ihm leer ist. Er hat sich bis hierher nach oben mit Dynamit durchgesprengt, mit DDT und bösen Worten durchgegiftet, er hat seinen Bruder aus dem Weg gedrängt und seinen Neffen mit einem Gewehr bedroht. Nun ist er ganz oben. Er hält an, verharrt, die Hände aufs Lenkrad gelegt, einige Sekunden, dann öffnet er das Tor zu seinem Garten.

mare No. 103.

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