Tel Aviv - A portrait of a city

Tel Aviv - A portrait of a city

Tel Aviv - eine Stadt wie keine andere. Die prosperierende Metropole am Mittelmeer ist wie eine Insel im religiösen und politischen Gewirr der Levante: so heiter, säkular, heterogen, weltoffen, feministisch und gay friendly wie keine andere Stadt des Nahen Ostens. Aber ihre Einwohner sind keine selbstvergessenen Partymenschen, sondern Zeugen und Nachfahren weltgeschichtlicher Katastrophen und daher begabt mit einer großen Überlebensfähigkeit und einer unnachahmlichen menschenfreundlichen Ironie.

Diese Unwahrscheinlichkeit namens Tel Aviv -  Eine Liebeserklärung 

Ein früher Freitagabend am Strand von Tel Aviv, und wieder einmal scheint alles konzentriert und alles möglich zu sein. Erinnerung und Gegenwart, Nachdenklichkeit und Daseinsjubel. Es ließe sich sagen: Die ganze Welt (oder doch ein beträchtlichtlicher Teil davon) in einer Nussschale. Oder auch: Die volle Dröhnung, the whole package - doch keines von jener Art, das von „all inclusive“-Reiseprogrammen feilgeboten wird oder unter „Geheimtipp“ firmiert, mit dem sich allein selbsternannte „Kenner“ brüsten könnten. Wo hier doch alles auf offener Bühne verhandelt wird, oder besser noch, im Plural: auf den Bühnen dieser Stadt! Vielleicht sollte ja auch eher von Optionen die Rede sein, von Möglichkeiten, die - genau jetzt und welt-einmalig tatsächlich nur hier - zur Verfügung stehen. Denn ob ein Philosoph tatsächlich nicht einmal sein Zimmer verlassen muss, um Entscheidendes zu erkennen, ist so ziemlich Ansichtssache, fest aber steht: Nicht einmal vom ausgebreiteten Badetuch, aus der winzigen Sandkuhle oder vom Beobachterplatz auf einen der winzigen Felsplateaus müsste man sich erheben, um zu schauen und zu hören, um zu erspüren und zu erinnern, was es auf sich hat mit dieser Stadt. Geschichten über Geschichten, bevölkert von Menschen und ihren Biographien.

Da drüben zum Beispiel, Richtung Süden, das Jahrtausende alte Yafo, von wo einst der renitente biblische Jona aufgebrochen war, ehe er danach drei Tage im Bauch des Wals zubrachte: Wie es flirrt in der Glast des letzten Sonnenlichts. Bald schon wird es mit seinen Türmchen, Dächern und Mauerfensterchen abendlich funkeln wie ein lässig dahin geworfenes Diadem. Spätestens dann werden vom alten Fischerhafen die kleinen Ausflugsschiffe lostuckern, alterschwach-wackere Seelenfänger. An Bord nämlich - zwischen Buffets mit Galiläa-Wein, Hommous, Salat und Falaffel - Tanzende jeglichen Alters, die sich schon während der Ausfahrt zu einheimischem Ethno-Pop zu bewegen beginnen, hebräische lyrics mit arabisch geprägten Melodien, mit und ohne wummernde Soundbytes. Ethnix oder Noa oder Rita oder Sarit Hadad oder auch Omer Adam, der ohnehin den Song der Stadt geschrieben hat. I´m your beauty, you´re my beast/ Welcome to the Middle East/account/janwindszus/ Tel Aviv, Ya Habibi, Tel Aviv! (Nur allzu weit in Richtung Gaza sollten sich die Küstenschiffchen nicht wagen, denn...)

Ganz sicher und verläßlich bricht dann an Bord auch jener Wettbewerb wieder aus - vom Strand her selbstverständlich nicht zu hören, doch von unzähligen Abenden zu erinnern - den Erstbesucher fälschlicherweise als Streit missverstehen oder zumindest als Bemühen um Distinktionsgewinn, wie sie das vielleicht aus Hamburg, London, München, Paris und New York kennen. Aber doch nicht hier, im trotz rasant wachsender Einkommensunterschiede noch immer verblüffend egalitär gepolten Tel Aviv! Wo es jetzt doch gar nicht darum geht, einander etwas beweisen zu müssen, sondern miteinander in die vergegenwärtigte Vergangenheit zu switchen - über die Reeling gelehnt und mit Fingerzeigen auf jenen Strandabschnitt, an dem im Sommer 1909 ein paar mit Hut und schwarzem Anzug bekleidete Herren ihre Spaten (und Oh, wie linkisch sie diese in ihren Feingeist-Händen hielten!) inmitten der damals noch meterhohen Dünen in den Sand gesteckt hatten, auf dass daraus dann eben jene Stadt würde: Tel Aviv, auf deutsch „Frühlingshügel“, und als Name ebenfalls bereits in der Bibel erwähnt, im Buch Hesekiel mit durchaus visionären Zeilen: „Und ich kam zu den Weggeführten nach Tel Aviv und setzte mich zu denen, die dort wohnten, und blieb dort unter ihnen sieben Tage wie im Rausch.“

Wie im Rausch? Dabei ist doch hier an Bord, mit verklärtem oder kritischem Blick auf die glitzernde Skyline der Stadt, niemand betrunken. Dennoch glauben alle zu wissen, wo genau jene Spatenstiche stattgefunden hatten - ein wenig nördlich der altehrwürdigen, schachtelartigen Festungsgebäude von Yafo, denn es hatte doch etwas ganz Neues, Freies, Luftiges entstehen sollen. War es dort gewesen, wo sich neben dem grün leuchtenden Minarett einer Moschee inzwischen das Hotel Dan erhebt? Oder doch eher etwas strand- und stadteinwärts in der Nähe des vor kurzem abgerissenen Dolphinariums, das im Sommer 2001 nach einem terroristischen Massaker an sechzehn israelischen Teenagern von einem Vergnügungs- zu einem Schreckensort geworden war, so dass die über der Reling ausgestreckten Arme wie ein Steuerruder jetzt schnell abbiegen und lieber auf das futuristische Gebäude des Opera Tower zeigen, der zumindest im Namen an das einstmals erste Opernhaus in der Levante erinnert: War am dortigen Strandabschnitt, da es ja damals die Schnellstraße noch nicht gegen hatte, jener Akt der Stadtgründung erfolgt, der endgültig hatte Schluss machen sollen mit der Furcht und Ghettoenge und einer proviorischen, aus puren Überlebensgründen immer zur Flucht entschlossenen provisorischen Existenz, die nahezu zweitausend Jahre gedauert hatte? Hätte man jetzt auf halbhoher See anständigen Internet-Empfang, könnte man es exakter herausfinden - worum es jedoch zuvörderst gar nicht geht.

Der ungefähre Ort der Stadtgründung, von See aus jetzt nur Dank der beleuchteten Promenade und den orangen Lichtern der Strandbars auszumachen, schafft vor allem das: Einen Assoziationsraum, einen weiten, überaus weiten Rahmen für´s Gedächtnis. Nicht unwahrscheinlich nämlich, dass jetzt auf den Schiffen zumindest einer oder eine ist, deren Vorfahren schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hierher gekommen waren, um aus unbesiedelter Dünenlandschaft die erste moderne Stadt des Nahen Ostens zu machen, einen „Kurfürstendamm mit Palmen, aber ohne Fürsten“, wie damals ein gewitzter Feuilletonist schrieb. Einen Gruß also all den russischen und polnischen und deutschen Ahnen, zumeist idealistisch gestimmten Herzenssozialisten, die das Glück gehabt hatten, als reguläre Einwanderer in das damals noch dem Osmanischen Reich zugehörige Palästina gekommen zu sein anstatt als Flüchtlinge der dreißiger Jahre, die Hitlers bald anlaufender Mordmaschinerie  nur  knapp entronnen waren.

Und all die Anderen, die nach Weltkriegsende als Shoah-Überlebende und nunmehr illegale Flüchtlinge ebenfalls genau hier angelandet waren, am Strand von Tel Aviv, und selbst da noch voller Panik vor den britischen Patrouillen im nunmehrigen Mandatsgebiet?

„Manche der Flüchtlingsschiffe waren bereits zuvor in europäischen Häfen aufgehalten worden oder so alt und überladen, dass sie im Schwarzen oder dem Mittelmeer mit allen Passagieren auf Grund sanken. Aber wer es hierher geschafft hatte, ins rettende Tel Aviv... In kleinen Booten mussten die erschöpften Lager-Überlebenden an Land gebracht und in den verbliebenen Dünen versteckt werden, bevor die Polizei der Britten etwas mitbekam. Zum Glück konnten sich dann sogar die leichten Mädchen von der unteren, der strandnahen Seite der Allenby Street nützlich machen, denn sie lenkten mit ihren Reizen die Brits ab, während ich mit ein paar Freundinnen zwischen Dünen und Seitenstraßen wartete, um an die Flüchtlinge schnell ein paar kleine Päckchen zu verteilen - Zahnbürsten, Seife, Früchte und auch etwas Geld, als eine Art Übergangsration.“

Über die Jahre hinweg hatte ich Miriam Weissensteins Geschichten zuhören können, dort an jenem südlichen Ende der Allenby Street, die einst die erste Straße der jungen Stadt gewesen war mit ihren quirligen kleinen Lädchen, Antiquariaten und Juwelier-Büdchen (und inzwischen veganen Take-Aways, Tätowierstudios, Sushi-Restaurants, Fahrrad- und Biolläden, alternativen Reisebüros und dem schwulen Sexclub „Apolo“ - mit fehlendem zweiten l, denn wenn schon laissez-faire, dann auch im Orthografischen.). Die ebenso schlagfertige wie elegante Miriam, Jahrgang 1913, war 1921 zusammen mit ihren Eltern aus der Tschechoslowakei in die bereits damals vibrierende Stadt gekommen, wo sie anderthalb Jahrzehnte später den Foto-Pionier Rudi Weissenstein kennengelernt und geheiratet hatte. Nun hütete sie als Witwe dessen Bilder und Abertausende von Dia-Negativen, die in Israel längst ikonographischen Rang besitzen: Bilder von Wüsten-Kamelen vor frisch eröffneten Lichtspieltheatern, europäische Cafés und blendendweiße Bauhaus-Architektur, deren mit Maritimen spielende Fassaden an Schiffsbugs erinnern. Auf den zahllosen Aufnahmen, die Miriam Weissenstein in ihrem kleinen Fotoatelier Prior fächerförmig zeigte, fanden sich dann auch die von Angst und Hoffnung gezeichneten Gesichter jener, die illegal an Land gekommen waren – wie auch derjenigen, die bereits seit Jahren hier lebten und die Stadt prägten. Strandszenen mit Handball spielenden jungen Frauen im Bikini (eine davon die junge Miriam) oder Arm in Arm mit gleichaltrigen Männern, die  schelmisch ihre Muskeln spielen lassen. Bei solchen Bildern trippte die Greisin auf die in Sütterlin geschriebenen Jahreszahlen und schwieg. Tel Aviver Sommerleben voller Menschen, die man nicht deportieren und ermorden würde: 1933, 1942, 1944... Und nein, nichts musste hinzugefügt werden, in diesem dämmrigen kleinen Ladengeschäft, in dessen Fenstervitrine auch die späteren Berühmtheiten als junge Männer abgelichtet waren: Szymon Perski alias Shimon Peres und ein junger Offizier namens Yitzhak Rabin. Und während die alte Dame, die schließlich 98 Jahre alt werden sollte, von jenen frühen Jahrzehnten Tel Avivs sprach, gingen draußen im Sonnenlicht leichtfüßig jene hinüber zum Strand, die vorstellbar waren als die Ururenkel der damals hierher gekommenen Flüchtlinge. (Inzwischen sind Rudi Weissensteins historisch gewordene Fotografien in der Galerie seines Enkels Ben zu besichtigen, gleich in der Nähe in der Tschernikowsky Street. Benannt ist die stille Seitenstraße übrigens nach jenem berühmten Poeten Saul Tschernikowsky, der, in einem Nest auf der Krim geboren, bereits 1931 mit dem Schiff in Yafo angekommen war; der Romancier Amos Oz erinnerte sich zeitlebens daran, wie er als Knirps auf den Knien des wuchtigen Dichter-Arztes gesessen hatte, „berauscht von einem Duft aus Tabak und herbstlichen Wäldern“. Und weil in Tel Aviv - als wäre die Stadt eine russische Matrjoschka-Puppe - ohnehin eine Geschichte der anderen entspringt, darf natürlich auch Oz´ Liebeserklärung nicht fehlen: „Es lag ein geheimer Zauber in dem Wort Tel Aviv. Auch die Schwerkraftgesetze waren völlig andere. In Tel Aviv hatten die Leute einen anderen Gang: Sie hüpften und schwebten, wie Neil Armstrong auf dem Mond. Die ganze Stadt war ein einziger Grashüpfer. Nicht einfach ein Ort, zu dem du dir einen Fahrschein löst, sondern ein anderer Kontinent.“) 

Nun ist der 1976 geborene Berliner Fotograf Jan Windszus mit seiner Kamea durch jenen Amos Ozschen „Kontinent der Grashüpfer“ gestreift. Aus dem Labyrinth der Straßen dann natürlich auch wieder vor zum Strand, wo hinter dem Carlton-Hotel in einem kleinem Eckladen Surfer-Zubehör ausgeliehen wird. Unter denen, die mit ihren schnittigen Brettern zum Wasser traben (ob ihrer selbstbewussten Körperlichkeit von Erst-Besuchern häufig als „unnahbar“ missverstanden) ist auch der freundliche mittzwanzigjährige Elad, der auf Nachfrage natürlich sofort die Details der Familiengeschichte parat hat: Wie die Großeltern, beide Shoah-Überlebende aus Rumänien, 1946 auf einem dieser Flüchtlingsschiffe einander kennengelernt und sich dann in einem winzigen Beiboot gemeinsam an Land gewagt hatten, um hier sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen.

Idylle Tel Aviv? Ja und Nein - und vielleicht ja doch. Dabei sind es gewiss nicht nur die Hare-Krisna-Jünger, die singend und Tamburine schlagend jeden Freitagabend die Promenade entlang ziehen und zumindest für Sekunden jenen sanftmähnigen Sängern und rastazöpfigen Frauen Konkurrenz machen, die mit Gitarre und Trommeln (mitunter auch Geigen) die abendlichen Passanten zu easy listening einladen. Denn wer ist da jetzt alles noch unterwegs: Verschleierte Frauen aus dem weiterhin mehrheitlich von israelischen Arabern bevölkerten Yafo, die laut und fröhlich in ihre Smartphones sprechen oder den Rauch ihrer Zigaretten in die linde Nachtluft steigen lassen. Junge äthiopische Juden und geduldete Flüchtlinge aus Eritrea (deren Status noch fragiler wäre, hätten sich nicht israelische Menschenrechtsorgansationen ihrer oftmals tragischen Schicksale angenommen), dazu Vertragsarbeiter aus Nigeria oder Rumänien, philippinische Hausangestellte und thailändische Krankenschwestern, die nun seit Shabbat-Beginn ihren day off haben, kichernd miteinander tuscheln, bei  Bedarf jedoch auch in entschiedenem hebräisch Widerworte geben können, falls es einer der vorbeitrabenden Goldkettchen-Prolls mit seinen Bemerkungen wieder mal an Respekt fehlen lässt. Lesbische Soldatinnen in Uniform und Curly-hair, Hand in Hand. Ob dieser Vielfalt staunende Touristen. Ältere oder auch uralte Paare, die sich bereits auf den kommenden Samstagabend freuen, wenn unweit des Surfer-Ladens ein Promenadenabschnitt zur Folkdance-Fläche wird, auf der sich gleich mehrere Generationen zu den bis heute populären Songs aus der frühen Kibbuz-Zeit drehen.

Dagegen im Techno-Gewummer an den überall frei zugänglichen Fitnessgeräten: Trainierende Muskel-Schwule oder Heteros - oder auch irgend etwas Fluides dazwischen, vielleicht ja diskrete Gäste des durch eine Mauer abgetrennten Orthodoxenstrandes, der nach Mitternacht, ein offenes Geheimnis, häufig zum multisexuellen Orgien-Areal wird, an dem dann alle Beteiligten, nun ja, hierarchiefrei zueinanderkommen. Dazu auf der Promenade - da die gängige Rede vom angeblich super-säkularen Tel Aviv schon immer unvollständig war - religiöse Familien, die Männer mit Kippot, die Frauen ebenfalls mit schwarzen Kopftüchern, die aus der Großen Synagoge oben an der Allenby Street kommen und nun noch etwas Meerluft schnuppern wollen.

Und all das hier im Nahen Osten, der im Format der Fernsehnachrichten vor allem aus wütenden Fäusteschüttlern und Identitäts-Verabsolutierern diverser Provenienz besteht!

Tatsächlich dürfte der kilometerweite Strand von Tel Aviv der einzige Ort auf der Welt sein, an dem beinahe das ganze Jahr über Araber und Juden, Singles und Familien, Seite an Seite sich sonnenbräunen und in die gekräuselt anbrandenden Wellen hineintauchen - wenn auch nicht unbedingt miteinander, so doch in einem friedlichen Nebeneinander. Gegenwärtige Fluchtgeschichten inklusive: Israelische Araber, die aus dem Norden des Landes hierher an den schwulen Strandabschnitt kommen, wo sie Verabredungen treffen und nach Einbruch der Dunkelheit im nahegelegenen Park hinter dem Hotel Hilton zumindest temporär ihre Sexualität ausleben können – in manchen Momenten sogar zusammen mit jungen jüdischen Orthodoxen, die aus den gleichen Gründen aus den ultrareligiösen Hochburgen von Bnei Brak oder Jerusalem nach Tel Aviv gekommen sind.

Dennoch: „Hedonismus pur“ wäre dies lediglich in der Sprache forscher Zeitungs- oder TV-Reportagen oder in der Rhetorik der städtischen Tourismusbehörde, die (durchaus mit Billigung des Ministeriums in Jerusalem) den jährlichen, wild und laut und bunt gefeierten Gay Pride inzwischen genauso anpreist wie die zahlreichen anderen städtischen Events - Raver-Parties auf Balkonterrassen, die von Daniel Barenboim oder Zubin Mehta dirigierten Klassik-Aufführungen, Theaterabende, Clubs, Bars und stylige (Vegan-)Restaurants. Just an diesen Orten aber ist dann immer auch anderes zu hören - in Gesprächen am Nachbartisch, am Tresen oder im Foyer, jenseits der Dancefloors oder auf dem parkähnlichen Flanierstreifen in der Mitte des Rothschild-Boulevards. Denn auch dort haben all die Skater, die mitternächtlichen Hundeausführer, die Paare und Paarungswilligen beiderlei Geschlechts, all die Greise und jungen Leute, die Schluffis und Nerds ebenso wie die wandelnden Muskelpakete, die ungekrönten Schönheitsköniginnen und die ihre Kids herbeirufenden Mütter, die Gitarrenspieler und E-Bike-Fahrer etwas geradezu Existentielles gemeinsam – ihre Armee-Erfahrung, jene jeweils drei prägenden Jahre. Manche sind aufgrund ihrer Erlebnisse in den besetzten Gebieten, an den Checkpoints und in den palästinensischen Orten zu regelrechten Tel Aviv-Skeptikern geworden und lieben dennoch die hiesige Blase aus Lebenslust und Gelassenheit umso mehr. Andere wiederum fürchten, dass die mentale Brutalisierung, die mit jeder Okkupation einhergeht, auch Tel Aviv vergiften könnte; immerhin war hier in der Stadt bereits 1995 Ministerpräsident Rabin von einem rechtsextremen jüdischen Israeli umgebracht worden. Nicht wenige aber verweisen auch auf die Blutspur, die der Bomben- und Messer-Terror der islamistischen Hamas quer durch Tel Aviv gezogen hatte - ohne dass dieser auch nur einmal zum Vorwand genommen worden wäre, an den hier und im benachbarten Yafo ansässigen Arabern irgendeine Rache- und Lynchjustiz zu üben. Doch allein Israels nicht zuletzt militärische Stärke, so dass durchaus diskussionswürdige und bedenkenswerte Resümee, würde einem toleranten Ort wie diesen die Existenz sichern. Gäste und Zugereiste werden schnell und gern zu dieser israelischen Dauer-Debatte dazugeladen. Empfiehlt sich in  solchen Momenten „Zurückhaltung“? Nicht einmal im konventionellsten Reiseführer würde sich heute noch dieser Benimm-Ratschlag finden. Der wirkliche Erkenntnisgewinn dürfte dennoch eher im Zuhören liegen, denn im Unterschied zu manch auswärtigen Kommentatoren von links bis rechts wissen die hier Debattierenden (ja mitunter, und das auch in lauschigen Sommernächten, sogar lautstark Streitenden) ganz genau und in nahezu jedem lebensweltlichen Detail, worüber sie derart leidenschaftlichen Dissens haben. Und gar nicht selten passiert dann etwas, was nicht nur im übrigen Israel und in der Region, sondern inzwischen auch „bei uns“ im Westen Seltenheitswert haben dürfte: Ein plötzliches Innehalten der Kontrahenten, ein selbstkritisches Prüfen der eigenen Argumente und des eigenen Referenzsystems - ein merkliches Zögern, ein Kopfschütteln, Momente eines guten Schweigens und verwunderten Lächelns - und manchmal eben auch ein lautes, sich und die anderen befreiendes Gelächter, das eben nicht eskapistisch ist.    

Ist das um jedwede Tragik und schier unauflösbare Konflikte wissende Trotzdem-Lachen womöglich sogar schon zu hören, jetzt an diesem Freitagabend am Strand? Man könnte einfach umhergehen, sagt sich der Tel Aviv-Besucher, der im Sommer 1991 zum ersten Mal in die Stadt gekommen war und seither wieder und wieder (der bereits aus der Bibel bekannte Terminus für derlei wäre wohl „zeitweilig ansässig“). Man könnte jetzt aufstehen, den Sand aus den Sandalen schütteln und, Badetuch über der Schulter, herumlaufen, zielbewusst oder tatsächlich einfach so. Oder auf dem Weg die Jona-Strasse (sic!) hinauf ein paar der Freunde anrufen, zu einem der eher weltlich zelebrierten Schabbes-Dinner hereinschneien oder sich für danach in einer der Bars in der von pittoresken Stoffläden gesäumten Nahalat Binyamin verabreden  - dort, wo Tel Aviv Schtedl und modernes Babylon zugleich zu sein scheint. Verschlungene, doch erzählbare Wege vom Strand hinein in die Stadt, die inzwischen beinahe schon zu Heimwegen geworden sind, begangen voller Daseinsdankbarheit, dass eine solch schiere Unwahrscheinlichkeit wie diese berückend nicht-anonyme Metropole ja tatsächlich existiert.

Kein Wunder und (ganz im Sinne hiesiger Freude am wortspielenden Interpretieren,) dann eben doch zu einem Wunder geworden, dass auch in den Bildern von Jan Windszus dieses Staunen immer evident ist. Tel Aviv, Ya Habibi, Tel Aviv.

Text: Marko Martin

Tel Aviv
132 Seiten
ISBN: 978-3-86648-638-6
Erscheinungsdatum: 13.10.20
www.mare.de